"Wenn's der Wahrheitsfindung dient"


Artikel verfasst von

Maike

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"Der Knast gehörte damals zur revolutionären Sozialisation", hat Fritz Teufel später einmal gesagt. "Das war die Grundausbildung." Wer rebelliert, macht über kurz oder lang Bekanntschaft mit Polizei und Justiz, mit Gerichten und Gefängnissen. Der düstere Bau, in dem festgenommene Rebellen in Berlin gewöhnlich landeten, befindet sich in Moabit: das Kriminalgericht samt Untersuchungsgefängnis.

Die Bodenfliesen dieser Kathedrale der Justiz tragen die Buchstaben KCG, Königliches Criminalgericht. Auf zwölf massiven Pfeilern ruht das mächtige Gewölbe. Imponierarchitektur. Treppen schwingen sich zu zwei Umgängen empor, daran hängen sechs wuchtige Skulpturen aus Sandstein, zumeist Frauenfiguren. Sie stehen für Glauben, Gerechtigkeit, Streitsucht, Friedfertigkeit, Lüge und Wahrheit.

Der Justizkoloss in Moabit, 1906 eröffnet, war das erste elektrisch erleuchtete Gebäude Berlins, mit eigenem Kraftwerk und eigener Wasserversorgung. Im Saal 700, zweite Etage, prangen an der hohen Decke stuckgeschnörkelt die Leitsprüche "Fiat Justitia" und "Suum Cuique" - "Gerechtigkeit geschehe" und "Jedem das Seine". Dieser große Schwurgerichtssaal hat viel Justizgeschichte erlebt.

Blick ins Kriminalgericht Moabit
DPA

Blick ins Kriminalgericht Moabit

Am 3. Juli 1967, einen Monat nach dem Tod von Benno Ohnesorg, verkündet hier der Vorsitzende Richter Friedrich Geus ein mit Spannung erwartetes Urteil. Angeklagt: Hans-Joachim Rehse, von 1934 bis 1945 Beisitzer beim Volksgerichtshof; als rechte Hand von Roland Freisler hatte er 231 Todesurteile unterschrieben.

Der Blutrichter war im Vorjahr in Schleswig-Holstein verhaftet worden, wo er wieder bei einem Verwaltungsgericht in Amt und Würden war. In der Hauptverhandlung bekennt er: "Ich wagte es nicht, irgendeine Unterschrift zu verweigern." Das Urteil des Landgerichts lautet: fünf Jahre Zuchthaus "wegen Beihilfe zum Mord in drei Fällen und Beihilfe zum versuchten Mord in vier Fällen". Rehse geht allerdings erfolgreich in Revision, der Fall muss erneut verhandelt werden.

Student als Bürgerschreck

Unterdessen sitzt Fritz Teufel seit dem 2. Juni 1967 in Untersuchungshaft, weil er einen Stein auf Polizisten geworfen haben soll. Der Student produziert in seiner Zelle mit der Schreibmaschine kleine Flugzettel: "Amis raus aus Vietnam, Nazis raus aus der Justiz."

Sechs Tage nach Rehses Verurteilung wird Teufel im Kriminalgericht Moabit vorgeführt. Mit Rainer Langhans muss er sich wegen "Aufforderung zur menschengefährdenden Brandstiftung" verantworten. Nach einem Warenhausbrand in Brüssel, bei dem 322 Menschen starben, hatten die Kommunarden ein geschmackloses, satirisches Flugblatt verteilt, Titel: "Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?"

 
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Kriminalgericht Moabit: Der Teufel und die Wahrheitsfindung

Schauplatz der Hauptverhandlung gegen Langhans und Teufel ist der Saal 500. Schon mit ihrer Kleidung begeben sich die beiden Angeklagten in scharfen Kontrast zu den Richtern, Staatsanwälten, Anwälten in ihren schwarzen Roben - sie tragen am liebsten orange Hosen, lila Hemden und andere Schockfarben aus London. Bunt und locker. Ohne Respekt vor dem Mummenschanz.

Nomen est omen? Der angeklagte Student Fritz Teufel eignete sich schon dank seines Familiennamens zum Bürgerschreck. Dazu noch dunkle Locken, Vollbart und Nickelbrille.

Der Vorsitzende Richter Walter Schwerdtner, 53, befragt Teufel, 24, zu seinem Werdegang:

"Sie sind vor vier Jahren nach Berlin gekommen, haben Publizistik studiert, was wollen Sie damit anfangen?"
Angeklagter Teufel: "Früher wollte ich mal so eine Art humoristischer Schriftsteller werden."
Richter Schwerdtner: "Und jetzt?"
Teufel: "Dann habe ich mich politisch engagiert - und da verliert man manchmal den Humor."
Schwerdtner: "Sie sind vorbestraft. Was war da?"
Teufel: "Selbstbedienungsladen im Januar, da habe ich was mitgenommen, ohne Bezahlung."
Schwerdtner: "Also Ladendiebstahl. Wie kam das?"
Teufel: "Hängt wohl mit meiner Einstellung zum Eigentum zusammen, dass es nämlich abgeschafft werden müsste."




 

Als Schwerdtner fragt, warum der Angeklagte das Flugblatt "Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?" hergestellt habe, erklärt Teufel:

"Es hat uns gereizt, die moralische Empörung der Leute hervorzurufen, die sich niemals entrüsten, wenn sie in ihrer Frühstückszeitung über Vietnam oder andere schlimme Dinge lesen."
Schwerdtner: "Sie demonstrieren also gegen Vietnam?"
Teufel: "Nicht nur Vietnam, wir demonstrieren auch gegen die Saturiertheit und Selbstgefälligkeit..."
Schwerdtner: "Wer ist denn saturiert?"
Teufel: "Die überwiegende Mehrheit unserer Mitbürger ist doch ganz schön selbstzufrieden."
Schwerdtner: "Noch mal: Wie meinen Sie das mit der Saturiertheit?"
Teufel: "Die Deutschen glauben doch, jetzt haben sie die Demokratie erreicht, sie sind ein richtig gutes Völkchen. Zwar sind mal von ihnen eine Menge Juden vergast worden, dafür werden jetzt mit deutschen Waffen Araber umgebracht, das ist auch eine Art Wiedergutmachung. - Es ist doch so: Je mehr von den Schwarzen oder Gelben da unten verrecken, desto besser für uns."
Schwerdtner: "Das meinen Sie aber doch nicht ernst." (Gelächter im Saal)
Teufel: "Doch - doch!"

Diese Protokolle hat Ulrich Enzensberger, einst mit Teufel in der Kommune 1, veröffentlicht. Sie zeigen Teufels Geschick, Staatsanwälte und Richter in Moabit zu provozieren und vorzuführen. Auf subtile, sehr persönliche Art und Weise entzauberten er, Langhans und andere angeklagte Kommunarden und Studenten die verstaubten Rituale in den Gerichtssälen.

Ganz anders gab sich ein Angeklagter, der sich in Moabit wegen "fahrlässiger Tötung" verantworten musste: Karl-Heinz Kurras. Der Kriminalhauptkommissar der Politischen Abteilung hatte Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 erschossen. Er präsentierte sich im blauen Anzug mit perfekt manikürten Fingernägeln als verfolgte Unschuld. Kurras fabulierte von knapp einem Dutzend Finsterlingen, die sich in der Krummen Straße bei der Oper auf ihn gestürzt und ihn malträtiert hätten. Um sein nacktes Leben zu retten, habe er zwei Warnschüsse abgegeben.

Mit Pistole im Gerichtssaal

Für den jungen Anwalt Otto Schily (später RAF-Verteidiger, Grünen-Abgeordneter, SPD-Innenminister) war die Hauptverhandlung gegen Kurras der erste politische Prozess. Er vertrat Ohnesorgs Vater und war fassungslos, dass Beweismittel verschwanden und vernichtet wurden. Der Angeklagte saß mit einer Pistole bewaffnet im Gerichtssaal.

Im November 1967 sprach das Landgericht Berlin Kurras vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei. Nachdem Schily Revision eingelegt hatte, kam es zu einer Neuauflage des Prozesses. Im Dezember 1970 sprach ihn das Landgericht erneut frei.

Er wäre wohl verurteilt worden, wenn das Gericht damals gewusst hätte, was erst im Mai 2009 auf der Grundlage von Stasi-Akten bekannt wurde: Kurras war nicht nur West-Berliner Kriminalbeamter, sondern auch bezahlter Informant der Stasi. Doch so wurde Kurras bei der Kripo befördert und bezog ab 1987 seine Beamtenpension, 27 Jahre lang, bis zu seinem Tod im Dezember 2014. Dem Journalisten Uwe Soukup erklärte er noch mal: "Wer mich angreift, wird vernichtet. Aus, Feierabend."

Sechs Tage nach dem ersten Kurras-Freispruch stand Fritz Teufel erneut in Moabit vor Gericht, diesmal als Rädelsführer wegen schweren Landfriedensbruchs am 2. Juni angeklagt. Am ersten Verhandlungstag las er in der Mittagspause im Gerichtssaal Zeitung. Als die Richter in den Saal zurückkamen, erhoben sich alle, nur der Angeklagte nicht. Nach mehreren Ermahnungen, dem preußischen Gewohnheitsrecht Folge zu leisten, sagte Teufel: "Wenn's der Wahrheitsfindung dient." Und stand auf.

Am 1. Dezember wurde der Haftbefehl aufgehoben. Teufel in Freiheit trug einen Adventskranz mit brennenden Kerzen auf dem Kopf, den seine Genossen mitgebracht hatten. Am 22. Dezember verkündete das Gericht nach neun Verhandlungstagen das Urteil: Freispruch. "Kennzeichnend für den Prozeß gegen Fritz Teufel war nicht das Benehmen des krausbärtigen Angeklagten, sondern das Verhalten der West-Berliner Justiz", schrieb der SPIEGEL. "Und skandalös an diesem Verfahren wirkten nicht die gezielten Clownerien des Kommunarden, sondern die gezielt anmutenden Rechtsreflexe der Obrigkeit."

Eine Ohrfeige für den Blutrichter

Zwei Polizeibeamte hatten gelogen, konnten sich auf Dauer aber nicht gegen die 24 Entlastungszeugen halten. Die Polizeilüge, Teufel habe Steine geworfen, stürzte in sich zusammen. Am Ende hatte Fritz Teufel 148 Tage unschuldig in U-Haft gesessen. Was offenbar nicht nur Nachteile hatte - als alter Mann erinnerte er sich: "Als ich aus dem Knast rauskam, hatte ich das Gefühl, dass mir eine Entschädigung zustand, und fiel von einer Verliebtheit in die andere."

Gegen Nazi-Richter Rehse wird ein zweites Mal verhandelt. Am 6. Dezember 1968 verkündet der Kammerrichter das Urteil: "Im Namen des Volkes", erklärt Ernst-Jürgen Oske, "der Angeklagte wird freigesprochen." Höhnisches Gelächter beim Publikum, Pfeifen und Buhrufe. "Millionen wurden ermordet, und jetzt so ein Urteil", ruft ein Zuschauer, "Sie Mörder", ein anderer. Ein älterer Herr geht zu Rehse und verpasst dem einstigen Blutrichter eine Ohrfeige mit den Worten: "Schämen Sie sich!"

"Hören Sie erst mal die Begründung", sagt Richter Oske zur Beruhigung des Publikums. "Der Volksgerichtshof war ein unabhängiges, nur dem Gesetz unterworfenes Gericht." Wieder Hohngelächter und Pfiffe. "Deutschland stand damals in einem Kampf auf Leben und Tod", fährt der Richter fort, "der Defätismus musste bekämpft werden. Auch ein totalitärer Staat hat das Recht auf Selbstbehauptung."

Richter Oske kann es nicht lassen, dem Staatsanwalt zu erklären: "Für Sie wäre es wohl besser gewesen, wenn Sie nie Anklage erhoben hätten." Nun ja. Für den hochmütigen Kammerrichter wäre es wohl besser gewesen, wenn er nie auf Freispruch für den Nazi-Richter erkannt hätte. Ein Münchner Anwalt stellt Strafanzeige wegen Rechtsbeugung gegen Oske; Studenten stürmen eine seiner Lehrveranstaltungen an der Freien Universität. Im Frühjahr 1969 wird er an einen Zivilsenat versetzt, der mit Vormundschaftsfragen befasst ist.

Sein "B-libi" entlastete Teufel

Das Fatale am Freispruch für Rehse: Die Berliner Staatsanwaltschaft stellt umgehend und erleichtert etliche Ermittlungsverfahren gegen andere ehemalige Richter an Hitlers Volksgerichtshof ein. In der Bundesrepublik wird nie ein Richter wegen seiner Urteile in der Nazidiktatur verurteilt.

Fritz Teufel erinnerte sich später: "Ich habe versucht, das Beste aus der Zeit im Knast zu machen, während draußen Flugblätter und Rauchkerzen flogen. Als ich rauskam, war ich natürlich happy. Mit einem Ohr habe ich den politischen Diskussionen zugehört, ein anderer Teil von mir wollte lieber schmusen."

Fritz Teufel ging 1969 nach München, schloss sich im Jahr darauf den militanten "Tupamaros München" an, später der "Bewegung 2. Juni". Bevor er in den Untergrund ging, sagte er in einem Interview: "Der Clown Teufel ist tot. Jetzt muss es krachen, diese Gesellschaft muss zerbrechen." Im September 1975 wurde er mit einer Genossin vom "2. Juni" in Berlin-Wedding festgenommen, in einer konspirativen Wohnung.

Die Staatsanwaltschaft klagte Teufel zusammen mit fünf anderen Mitgliedern der "Bewegung 2. Juni" an, wegen der Ermordung des Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann und der Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz. Erst knapp drei Jahre nach Teufels Verhaftung wurde im April 1978 die Hauptverhandlung eröffnet, geleitet von Friedrich Geus, der Kurras freigesprochen hatte.

Am 178. Verhandlungstag, im Mai 1980, stand Teufel plötzlich auf und sagte, er wolle eine wichtige Erklärung abgeben: Er habe schon deshalb niemanden ermordet oder entführt, weil er in der fraglichen Zeit nicht in West-Berlin gewesen sei, sondern im Ruhrgebiet gelebt habe, in Essen, und in einer Fabrik Klodeckel hergestellt habe. Das "B-libi", wie Teufel seine entlastenden Aussagen nannte, erwies sich als zutreffend. Er wurde aus dem Gefängnis entlassen. Diesmal hatte er 1638 Tage in der Untersuchungshaftanstalt Moabit zugebracht.

Es war das letzte Mal, dass Teufel in Moabit einsaß. Er war nach seiner Entlassung kurzzeitig "Säzzer" bei der "taz", dann entdeckte er seine große Liebe zum Fahrrad und arbeitete als Kurier. Fritz Teufel starb im Juli 2010 in Berlin.